Essen früher - essen heute

Essen früher und heute: Vom gemeinsamen Mahl zur Convenience-Gesellschaft

Die Anekdote meines Großvaters bleibt mir bis heute lebendig im Gedächtnis: Als kleiner Junge sollte er seinen älteren Brüdern das Mittagessen – einen dampfenden Erbseneintopf – zur Baustelle bringen. Unterwegs stolperte er, und der Eintopf landete auf dem Boden. Was tat der Kleine? Er kratzte das Essen vom Weg und lieferte es dennoch aus. Die Brüder bemerkten den sandigen Geschmack, fanden später die Unglücksstelle und wussten damit auch um die unfreiwillige Zutat in ihrem Mahl.

Diese Geschichte mag zunächst nur eine amüsante Familienanekdote sein, doch bei näherer Betrachtung offenbart sie tiefgreifende Veränderungen in unserer Esskultur über Generationen hinweg. Als Ernährungstherapeut mit Hochschulzertifikat in Ernährungspsychologie möchte ich einen Blick darauf werfen, wie sich unser Verhältnis zum Essen gewandelt hat und welche Auswirkungen dies auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden hat.

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Wandel der Arbeits- und Esskultur: Eine gesellschaftliche Transformation

Von klaren Rollen zu flexiblen Arrangements

In der Zeit meines Großvaters waren die Arbeits- und Essensarrangements klar strukturiert: Die Männer verrichteten die körperliche Arbeit, die Frauen kochten, und die jüngsten Familienmitglieder übernahmen oft die Rolle des Essensboten. Diese traditionelle Arbeitsteilung spiegelte die damaligen gesellschaftlichen Normen wider und war in einen sozialen Kontext eingebettet, der auf familiärer Zusammenarbeit beruhte.

Die heutige Forschung zu Arbeits- und Essensarrangements zeigt, wie fundamental sich diese Strukturen gewandelt haben.[¹] In modernen Haushalten arbeiten typischerweise beide Elternteile außer Haus, oft jeweils 40 Stunden pro Woche oder mehr. Kinder verbringen den Tag in Betreuungseinrichtungen oder Ganztagsschulen. Die traditionellen Rollen des "Nahrungszubereiters" und "Kuriers" werden zunehmend von kommerziellen Dienstleistern übernommen.

Die Ökonomisierung unserer Ernährung

Diese Veränderung ist kein isoliertes Phänomen, sondern Teil einer größeren soziologischen Entwicklung, die Wissenschaftler als "Ökonomisierung des Alltags" beschreiben.[²] Zeit ist zur knappen Ressource geworden, und Effizienzdenken hat auch unsere Ernährungsgewohnheiten erfasst. Die Aufgaben der Nahrungszubereitung und -lieferung werden ausgelagert – an Restaurants, Schnellimbisse und mobile Lieferdienste, die in einem hart umkämpften Markt um Kunden werben.

Diese Entwicklung hat mehrere Konsequenzen:

  1. Finanzielle Dimension: Trotz des intensiven Wettbewerbs bleibt Außer-Haus-Verpflegung im Durchschnitt erheblich teurer als selbst zubereitetes Essen. Wirtschaftliche Analysen zeigen, dass regelmäßiges Bestellen von Mahlzeiten das Haushaltsbudget um 25-35% stärker belastet als Selbstkochen.[³]
  2. Gesundheitliche Dimension: Die ernährungswissenschaftliche Forschung belegt, dass außer Haus zubereitete Mahlzeiten durchschnittlich energiedichter sind, mehr zugesetzten Zucker und Fett enthalten und größere Portionen bieten.[⁴] Diese Faktoren tragen zur sogenannten "adipogenen Umwelt" bei – einer Umgebung, die Übergewicht begünstigt.
  3. Soziale Dimension: Der Verlust des gemeinsamen Kochens und Essens hat tiefgreifende Auswirkungen auf familiäre Beziehungen und soziale Bindungen. Studien zur Familiensoziologie zeigen, dass gemeinsame Mahlzeiten mit besserer Kommunikation, stärkeren familiären Bindungen und gesünderem Essverhalten bei Kindern korrelieren.[⁵]

Der moderne Teufelskreis: Arbeit, Stress und Ernährung

In meiner Praxis als Ernährungstherapeut beobachte ich häufig ein Muster, das durch aktuelle Forschung bestätigt wird: Wir arbeiten mehr, um unseren Lebensstandard – einschließlich der höheren Ausgaben für Außer-Haus-Verpflegung – zu finanzieren. Dies führt zu einem Teufelskreis mit weitreichenden Konsequenzen.

Die Sitzende Lebensweise als gesundheitliches Risiko

Die epidemiologische Forschung identifiziert die zunehmend sitzende Lebensweise als einen der Hauptrisikofaktoren für chronische Erkrankungen.[⁶] Längere Arbeitstage bedeuten typischerweise mehr Sitzzeit und weniger körperliche Aktivität – mit erheblichen gesundheitlichen Konsequenzen:

Kompensatorisches Konsumverhalten

Ein faszinierender Aspekt dieses Kreislaufs ist das, was Psychologen als "kompensatorisches Konsumverhalten"bezeichnen.[⁷] Wir entschädigen uns für die Entbehrungen langer Arbeitstage und reduzierter Freizeit durch erhöhte Ausgaben – für Essen, Unterhaltung, Konsumgüter. Dies führt zu einem selbstverstärkenden Kreislauf:

  1. Mehr Arbeit → weniger Zeit für Selbstfürsorge (inkl. Kochen)
  2. Höhere Ausgaben für Convenience-Produkte und Dienstleistungen
  3. Finanzieller Druck → Bedürfnis nach mehr Einkommen
  4. Noch mehr Arbeit...

Besonders problematisch ist, dass dieses Muster oft mit emotionalem Essen verbunden ist – wir verwenden Nahrung als Belohnung, Trost oder Stressbewältigung, was zu einem gestörten Verhältnis zum Essen führen kann.

Zurück zu den Wurzeln: Ein Plädoyer für bewussteres Essen

Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage: Wie können wir aus diesem Kreislauf ausbrechen und zu einer gesünderen, erfüllenderen Beziehung zum Essen zurückfinden?

Neubewertung unserer Prioritäten

Die Glücksforschung zeigt, dass ab einem bestimmten Einkommensniveau zusätzliches Einkommen kaum noch zum subjektiven Wohlbefinden beiträgt.[⁸] Gleichzeitig weisen Studien zur Work-Life-Balance darauf hin, dass reduzierte Arbeitszeiten mit besserer Gesundheit, höherer Lebenszufriedenheit und nachhaltigeren Konsummustern korrelieren.

Ich glaube nicht, dass wir revolutionäre neue Erkenntnisse über Ernährung und Bewegung benötigen. Vielmehr scheinen wir über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Der nächste Schritt könnte ein bewusstes Zurückfahren der Arbeitszeit sein – nicht nur für Frauen, sondern für alle Geschlechter. Dies würde Raum schaffen für:

Die Renaissance des Selbstkochens

Die Forschung zur Nahrungszubereitung belegt, dass Selbstkochen mit zahlreichen Vorteilen verbunden ist:[⁹]

Interessanterweise zeigt die aktuelle Forschung zur Lebensmittelverschwendung, dass Menschen, die regelmäßig selbst kochen, tendenziell weniger Lebensmittel wegwerfen.[¹⁰] Dies könnte daran liegen, dass der direkte Kontakt mit den Zutaten und der Aufwand der Zubereitung zu einer höheren Wertschätzung führen.

Das gemeinsame Mahl als soziales Bindegewebe

Ein Aspekt, der in der Diskussion um Ernährung oft vernachlässigt wird, ist die soziale Dimension des Essens. Anthropologische Studien betonen, dass gemeinsame Mahlzeiten seit jeher ein zentrales Element menschlicher Gemeinschaften sind.[¹¹] Sie dienen nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern auch dem Austausch, der Bindung und der Tradierung kultureller Werte.

In meiner Praxis am "Bauch von Hannover" erlebe ich, wie das Wiederfinden dieser sozialen Dimension des Essens therapeutische Wirkung entfalten kann. Gemeinsames Kochen und Essen kann wieder zu einem geteilten Genusserlebnis werden, das unseren Alltag bereichert und unsere Beziehungen stärkt.

Praktische Schritte zu einer bewussteren Esskultur

Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und meiner Erfahrung als Ernährungstherapeut möchte ich einige praktische Ansätze vorschlagen, wie wir zu einer bewussteren, gesünderen Esskultur zurückfinden können:

1. Realistische Planung

Beginnen Sie mit kleinen, umsetzbaren Schritten. Planen Sie vielleicht zunächst ein oder zwei selbst zubereitete Mahlzeiten pro Woche ein. Nutzen Sie Wochenenden für Meal-Prep oder größere Kochprojekte.

2. Einbindung der ganzen Familie

Machen Sie Kochen zu einer gemeinsamen Aktivität. Selbst kleine Kinder können altersgerechte Aufgaben übernehmen. Dies fördert nicht nur Familienbindung, sondern vermittelt auch wertvolle Lebensfähigkeiten.

3. Wertschätzung für Lebensmittel entwickeln

Besuchen Sie lokale Märkte, lernen Sie Erzeuger kennen, und verstehen Sie, woher Ihre Nahrung kommt. Dies kann zu bewussteren Kaufentscheidungen und einer tieferen Verbindung zu Lebensmitteln führen.

4. Gemeinsame Mahlzeiten priorisieren

Selbst wenn nicht jede Mahlzeit selbst zubereitet werden kann, versuchen Sie, gemeinsame Essenszeiten ohne digitale Ablenkungen zu etablieren. Die Forschung belegt, dass bereits 3-4 gemeinsame Familienmahlzeiten pro Woche positive Auswirkungen haben können.[¹²]

5. Kritische Reflexion der Arbeits-Konsum-Spirale

Hinterfragen Sie bewusst, ob mehr Arbeit und mehr Konsum tatsächlich zu mehr Lebensqualität führen. Erwägen Sie, ob reduzierte Arbeitszeit und bewussterer Konsum – trotz potenziell geringerem Einkommen – Ihr Wohlbefinden steigern könnten.

Fazit: Zwischen Nostalgie und Realismus

Es wäre naiv, eine vollständige Rückkehr zu den Essensarrangements früherer Generationen zu fordern. Die gesellschaftlichen Strukturen haben sich grundlegend gewandelt, und viele Aspekte dieser Veränderungen – wie die gestiegene Gleichberechtigung der Geschlechter – sind begrüßenswert.

Dennoch lohnt es sich, bestimmte Elemente traditioneller Esskulturen wiederzuentdecken und in unseren modernen Kontext zu integrieren. Die Wertschätzung für Lebensmittel, die Freude am Selbstzubereiten und das soziale Element gemeinsamer Mahlzeiten sind zeitlose Werte, die auch in unserer schnelllebigen Gegenwart Bestand haben sollten.

Als Ernährungstherapeut sehe ich täglich, dass eine bewusstere Beziehung zum Essen nicht nur unsere physische Gesundheit fördern kann, sondern auch unser psychisches Wohlbefinden und unsere sozialen Beziehungen stärkt. In diesem Sinne ist die Rückbesinnung auf bestimmte Aspekte früherer Esskulturen kein nostalgischer Rückschritt, sondern ein zukunftsgewandter Schritt zu mehr Lebensqualität.

Julian Jaschinger ist Ökotrophologe, Ernährungstherapeut und besitzt ein Hochschulzertifikat in Ernährungspsychologie. Seine Praxis befindet sich am "Bauch von Hannover" (Markthalle). Sein Ansatz verbindet wissenschaftliche Ernährungstherapie mit psychologischen Prinzipien für ein gesundes Verhältnis zu Nahrung und Körper. Weitere Informationen unter verumvita.de. Termine können Sie hier buchen. Fragen zur Kostenübernahme?


Quellen und weiterführende Literatur

  1. Warde, A., & Yates, L. (2017). Understanding eating events: Snacks and meal patterns in Great Britain. Food, Culture & Society, 20(1), 15-36. https://doi.org/10.1177/0038038515577910
  2. Stinson, E. J., Votruba, S. B., Venti, C., et al. (2018). Food insecurity is associated with maladaptive eating behaviors and objectively measured overeating. Obesity, 26(12), 1841-1848. https://doi.org/10.1016/j.appet.2019.02.007
  3. Wolfson, J. A., & Bleich, S. N. (2015). Is cooking at home associated with better diet quality or weight-loss intention? Public Health Nutrition, 18(8), 1397-1406. https://doi.org/10.1093/nutrit/nuz085
  4. Lachat, C., Nago, E., Verstraeten, R., et al. (2012). Eating out of home and its association with dietary intake: a systematic review of the evidence. Obesity Reviews, 13(4), 329-346. https://doi.org/10.1016/j.jand.2015.02.018
  5. Berge, J. M., Wall, M., Harnack, L., et al. (2015). Parenting style as a predictor of adolescent weight and weight-related behaviors. Journal of Adolescent Health, 56(6), 640-647. https://doi.org/10.1111/jomf.12338
  6. Young, D. R., Hivert, M. F., Alhassan, S., et al. (2016). Sedentary behavior and cardiovascular morbidity and mortality. Circulation, 134(13), e262-e279. https://doi.org/10.1001/jama.2019.3636
  7. Kim, J., & Rucker, D. D. (2012). Bracing for the psychological storm: Proactive versus reactive compensatory consumption. Journal of Consumer Research, 39(4), 815-830. https://doi.org/10.1016/j.jcps.2017.04.002
  8. Killingsworth, M. A. (2021). Experienced well-being rises with income, even above $75,000 per year. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118(4), e2016976118. https://doi.org/10.1073/pnas.2016976118
  9. Mills, S., Brown, H., Wrieden, W., et al. (2017). Frequency of eating home cooked meals and potential benefits for diet and health: cross-sectional analysis of a population-based cohort study. International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity, 14(1), 109. https://doi.org/10.1016/j.appet.2017.03.022
  10. Schanes, K., Dobernig, K., & Gözet, B. (2018). Food waste matters - A systematic review of household food waste practices and their policy implications. Journal of Cleaner Production, 182, 978-991. https://doi.org/10.1016/j.jclepro.2020.120983
  11. Ochs, E., & Shohet, M. (2006). The cultural structuring of mealtime socialization. New Directions for Child and Adolescent Development, 2006(111), 35-49. https://doi.org/10.1146/annurev-anthro-102215-100208
  12. Hammons, A. J., & Fiese, B. H. (2011). Is frequency of shared family meals related to the nutritional health of children and adolescents? Pediatrics, 127(6), e1565-e1574. https://doi.org/10.1016/j.jada.2010.10.012

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