Essen als Sucht

Essen als Sucht – Ist Heilung möglich?

Essen als Sucht – Ist Heilung möglich?

In diesem Blogartikel geht es um Essen als Sucht. Allerdings beschränken wir uns nicht auf eine einseitige Sicht darauf, wie Essen zur Sucht werden kann. Stattdessen betrachten wir Sucht aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Die Idee zu diesem Blogbeitrag stammt von dem international anerkannten Arzt und Experten für Suchterkrankungen, Dr. Gabor Maté. Für diesen Artikel steht mir also keine große Anerkennung zu. Ich folge lediglich einer Idee, die mir bereits vor drei Jahren kam. Nämlich Bücher und Artikel, die mich tief bewegen, zu rezensieren. Vielleicht inspiriert dich diese Review dazu, dass Buch „In the realm of hungry ghosts“ (Im Reich der hungrigen Geister) von Herrn Dr. Maté zu lesen. Es würde mich jedenfalls für dich freuen. Denn Sucht ist, laut Maté, ein Phänomen, dass sich auf einem Kontinuum bewegt. Somit geht das Thema jede und jeden von uns etwas an. Die eine weniger, den anderen mehr. Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen von „Essen als Sucht“.

Über Dr. Gabor Maté

Dr. Gabor Maté ist ein kanadischer Arzt und Suchtspezialist. Geboren wurde er im Jahr 1944 in Budapest. Da Maté aus einer jüdischen Familie stammt, wurde er bereits als Baby von der Deportation durch die Nazis bedroht. Seine Familie entkam diesem Schicksal nur knapp. Geblieben sind jedoch die traumatischen Erfahrungen, die Dr. Gabor Maté unbewusst bereits in den ersten Jahren seines Lebens erleben musste. Diese Erfahrungen haben ihn sowohl als Mensch als auch als Arzt sehr geprägt. 

Die Arbeit von Dr. Maté

Oftmals sind es unsere eigenen emotionalen Lebenserfahrungen, die uns die Richtung für unsere berufliche Entwicklung vorgeben. So ist es auch bei Herrn Dr. Maté. Mittlerweile in seinen 70ern kann er auf Jahrzehnte praktischer Arbeit mit suchterkrankten Menschen zurückblicken. Als Autor und Redner trägt er heute erheblich dazu bei, die Stigmatisierung von Suchterkrankungen zu bekämpfen. Dabei legt er eine humane und ganzheitliche Sicht auf das Thema an den Tag und beleuchtet auch seinen eigenen Kampf mit seinen Süchten.

Die Betroffenen

Besonders berührend an Dr. Matés Buch „Im Reich der hungrigen Geister“ empfinde ich die Tatsache, dass er in großem Umfang die Betroffenen selbst zu Wort kommen lässt. Diese stigmatisierten und ausgegrenzten Menschen sollten gehört werden. Diese Tatsache hat mir Dr. Maté eindeutig vor Augen geführt. Die Traumata, die Menschen dazu bringen, ihr gesamtes Leben der Beschaffung und dem Konsum von harten Drogen wie Heroin oder Kokain zu widmen, lassen sich nicht von Außen ermessen. Es ist daher dringend notwendig, den Stimmen dieser Menschen Gehör zu schenken.

Essen als Sucht

Beim Essen als Sucht handelt es sich um eine besonders heikle Angelegenheit. Denn während andere Süchtige einen Eid ablegen können, ihr bevorzugtes Verhalten oder die betreffende Substanz gänzlich zu meiden, ist Essen ein menschliches Grundbedürfnis. Damit will ich keineswegs den Kampf mit anderen Süchten verharmlosen. Es wäre auch illusionär, die individuellen Traumata von Menschen nach Härtegrad sortieren zu wollen. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass Essen als Sucht ein ganz besonders komplexes Thema ist.

Sucht

Was ist Sucht? Ist es lediglich ein menschliches Fehlverhalten? Ein Zeichen von Schwäche? Dr. Gabor Maté zeigt in seinem Buch, dass Sucht aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Auf der einen Seite spielt die Veranlagung eine Rolle. Aber diese Perspektive ist nicht sonderlich hilfreich. Sie unterstützt höchstens dabei, den betroffenen Menschen zu entlasten. Aber zu Befähigung oder gar Heilung trägt diese endogene Perspektive keineswegs bei. Denn eine Suchtpersönlichkeit oder bestimmte Gene, die Sucht unausweichlich bedingen, gibt es nicht. Dr. Gabor Maté weist auch auf die Epigenetik hin. Diese deutet an, dass (traumatische) Erfahrungen bestimmte Gene ein- und ausschalten können. Solche, von der Umwelt induzierten Veränderungen in den Genen der Eltern können unverändert von einer Generation auf die nächste übertragen werden. 

„Aber sollten sich diese Gene dann nicht auch durch veränderte Lebenserfahrungen wieder ausschalten oder umprogrammieren lassen können?“

Was ist Sucht?

Die Thematik der Sucht lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Unter anderem aus neurowissenschaftlicher, erfahrungsabhängiger und spiritueller Sicht.

Die neurowissenschaftliche Sicht

Aus neurowissenschaftlicher Sicht geht Sucht stets mit einer veränderten Gehirnchemie einher. Besonders der Botenstoff Dopamin wird mit der Pathologie der Sucht in Verbindung gebracht. Dr. Maté berichtet in „Im Reich der hungrigen Geister“ davon, dass sich im Verlaufe einer Suchterkrankung, die Anzahl der Dopaminrezeptoren im Gehirn verringert. Denn der Körper fährt eigene Stoffwechselprozesse herunter, je länger die Droge oder das suchtabhängige Verhalten deren natürliche Funktion ersetzen. Somit erklärt sich auch die Notwendigkeit eines Entzuges. Denn das Gehirn benötigt eine gewisse Zeit ohne das Suchtverhalten, um diese Veränderungen wieder auszugleichen. Laut Dr. Maté ist es jedoch prinzipiell möglich, dass unser Körper die verlorenen Funktionen wieder erlernt.

Die erfahrungsabhängige Sicht

Aus erfahrungsabhängiger Sicht sind Suchterkrankungen mit frühkindlichem Trauma zu erklären. Wer früh in seinem Leben mit einem Umfeld konfrontiert ist, dass seine Bedürfnisse nicht erkennt oder missachtet, sucht sich externe Möglichkeiten um diese Bedürfnisse zu erfüllen. Je schlimmer die Erfahrung, desto manifester und extremer die spätere Sucht. Wenn wir suchterkrankten Menschen begegnen, begegnen wir wohl auch fast immer Menschen, die emotional oder körperlich vernachlässigt oder missbraucht worden sind. 

Die spirituelle Sicht

Von einem spirituellen Blickwinkel aus betrachtet, kann Sucht generell als ein Mangel an Liebe betrachtet werden. Als kleine Kinder müssen wir, um gesund aufwachsen zu können, die Erfahrung machen, dass unsere Bezugspersonen sich um uns kümmern. Dr. Maté erklärt, dass sich die Stimmungen der Eltern direkt auf ihre Kinder übertragen. Wir lernen scheinbar nicht nur über Beobachtung, sondern ebenfalls über Fühlen. Schon Babys fühlen, ob sie auf dieser Welt willkommen sind oder nicht. Liebende und wohlwollende Eltern vermitteln ihren Kindern auf unbewusster Ebene, dass sie geliebt und gewollt sind. 

„Erfahren wir in den ersten Jahren unseres Lebens nicht das Urvertrauen unserer Eltern, wird damit bereits der Grundstein für mögliche Suchterkrankungen im späteren Leben gelegt.“

Auslöser von Sucht

Die Auslöser von Sucht liegen also nicht im Fehlverhalten eines einzelnen Menschen. Klar, wir könnten jetzt die Eltern anklagen, die ihren Kindern nicht genug Liebe und Vertrauen schenken. Aber diese „Rabeneltern“ waren ja ebenfalls mal Kinder. Insbesondere in Deutschland können wir bei der Kriegsgenerationen fest davon ausgehen, dass Traumata eher die Regel als die Ausnahme waren. Zudem wurde in dieser Generation auch tunlichst vermieden, diese Traumata nach dem Krieg aufzuarbeiten. Die Folgen sind schwere emotionale Mängel, Schuld und starre Lebensvorstellungen. 

„Nach den Erkenntnissen der Epigenetik ist es also ziemlich wahrscheinlich, dass diese kriegsbasierten Traumata bis heute von Generation zu Generation weitergegeben werden.“

Essen als Sucht – frühkindliche Traumata

Dr. Maté geht in seinem Buch „Im Reich der hungrigen Geister“ auch auf das Thema Essen ein. Laut ihm sind Kinder, die emotional vernachlässigt wurden, weit anfälliger für „selbsttröstendes“ Verhalten wie Daumenlutschen. Dieser Ausgleich des Mangels an erfahrener Liebe und Wertschätzung äußert sich dann oftmals in übermäßigem Essen im Erwachsenenalter. Somit könnte die so vielfach beklagte Übergewichtsdebatte ihren Ursprung in einem Mangel an Liebe haben. Die betroffenen Menschen wären somit keineswegs zu verurteilen. Stattdessen benötigen sie vielleicht Hilfe dabei ihre traumatischen Kindheitserfahrungen aufzuarbeiten. Nur so könnte die ewige Weitergabe von traumatischen Erfahrungen von Generation zu Generation gestoppt und umgekehrt werden.

Essen als Sucht & Gesellschaft

Wenn die durchschlagenden Erfolge der FastFood-Industrie und Süßwarenhersteller seit dem Ende des 2. Weltkrieges auf traumatische Erfahrungen zurückgeführt werden können, müssen wir unseren Blickwinkel auf Sucht vollständig umkehren. Statt die betroffenen Menschen zu verurteilen, müssten wir lernen sie zu verstehen. Statt sie an den Rand der Gesellschaft zu stellen, müssten wir sie willkommen heißen. 

„Das würde jedoch auch bedeuten, anzuerkennen, dass diese Menschen gar nicht so weit von der restlichen Gesellschaft abweichen.“

Essen als Sucht – gesellschaftliche Sündenböcke

Suchterkrankte Menschen werden in unserer Gesellschaft nicht gerne gesehen. Die, an schweren substanzabhängigen Süchten erkrankten Menschen lungern an Bahnhöfen und Parkbänken herum. Die Dicken hingegen werden als Symbol für Faulheit, Lasterhaftigkeit und Disziplinlosigkeit angeprangert. Gemeinsam könnten diese Menschen haben, dass sie uns Angst machen. Angst vor uns selbst. Steckt nicht in uns allen ein Süchtiger? Sind wir nicht alle mit dem Gefühl vertraut, nicht genug von … zu bekommen? 

Essen als Sucht – Im Reich der hungrigen Geister

Laut Dr. Maté ist Sucht ein Phänomen, dass uns alle betrifft. Es bewegt sich auf einem Kontinuum, an dessen einem Extrem die Menschen stehen, die sich nur durch die Injektion von harten Drogen von den Leiden des Lebens abzulenken wissen. Am anderen Ende stehen vielleicht die wenigen Glücklichen unter uns, die eine wirklich unbeschwerte Kindheit hatten. Die meisten von uns, mich inbegriffen, befinden sich irgendwo dazwischen. Hier befinden sich die Workaholics und die Sportsüchtigen. Auch hier befinden sich diejenigen unter uns, die ohne ein Glas Wein am Abend nicht schlafen können. Aber auch die Bildschirm- und Spielsüchtigen, und auch die Handyabhängigen befinden sich auf diesem Kontinuum. 

Im Reich der hungrigen Geister – Ein Bewusstseinszustand

Vermutlich befinden wir uns alle hin und wieder im Reich der hungrigen Geister. In diesem Bewusstseinszustand fühlen wir uns so, als wenn wir nicht die inneren Ressourcen hätten, um mit den Unwägbarkeiten des Lebens umzugehen. Wenn ich mich in diesem Bewusstseinszustand befinde, fühle ich mich wie ein Fass ohne Boden. Unabhängig davon, für welches Verhalten oder welche Substanz ich mich dann entscheide, ich kann nicht genug bekommen. Ob essen, rauchen, spielen, arbeiten oder Sport treiben – in diesem Zustand scheint es mir unmöglich mich innerlich zu regulieren.

„Im Reich der hungrigen Geister benötige ich etwas außerhalb meiner Selbst, um mich selbst zu beruhigen.“

Essen als Sucht – Ein Fazit?

Unter das Thema Sucht ein Fazit zu ziehen, fällt mir nicht leicht. Ich weiß nicht, ob ich diesen Zustand jemals vollständig hinter mir lassen kann. Gerade sitze ich aufrecht in meinem Bett und schreibe an diesem Artikel, weil ich nicht schlafen kann. Ich glaube, dass wir dieses Thema nur gemeinsam bewältigen können. Nur, wenn wir lernen, dass wir im Zustand der hungrigen Geister nicht alleine sind, können wir uns selbst und andere wertschätzen und lieben. Wahrscheinlich haben wir alle Traumata erlitten. Wie wäre es, wenn wir uns in die Augen sehen, unseren Kampf mit den Leiden des Lebens anerkennen und gemeinsam heilen?

Essen als Sucht – Ist Heilung möglich?

Ob Heilung von Sucht möglich ist, lässt sich ebenfalls nicht von Außen bestimmen. Wir haben nicht das Recht, den Anspruch an Heilung an jemanden anderen zu stellen. Wir können jedoch davon ausgehen, dass das jeweilige Verhalten die aktuell beste Lösung für diesen Menschen darstellt. Ich bin jedoch grundsätzlich optimistisch – eine innere Ressource, für die ich sehr dankbar bin. Deswegen gehe ich davon aus, dass für jeden Menschen, Heilung, zumindest partiell möglich ist. Doch diese Heilung kann nur aktiv erfolgen. Wir heilen niemals nur passiv. 

„Um unsere inneren Verletzungen zu heilen, müssen wir uns selbst verstehen lernen.“

Essen als Sucht – Heilung durch Sprache

In unserem Gehirn werden unsere Erinnerungen gespeichert. Diese gespeicherten Erfahrungen sind jedoch nicht zwangsweise in unserem bewussten Denken vorrätig. Viele Erinnerungen, insbesondere aus der frühen Kindheit, sind außerhalb unseres Sprachzentrums abgelegt. Vor Allem unser limbisches System speichert die Emotionen, die mit unseren Erlebnissen einhergegangen sind, ab. Eine überzeugende psychologische Theorie besagt, dass wir unsere traumatischen Erlebnisse erst dann verarbeiten können, wenn wir sie in unseren präfrontalen Kortex integrieren. Das bedeutet, dass diese diffusen inneren Bilder und Gefühle zu Sprache werden müssen. Diese „Sprache“ kann auf unterschiedlichen Ebenen zum Ausdruck kommen. 

Essen als Sucht – Heilung durch Beziehung

Durch Kunst, expressives Schreiben oder durch vertrauensvolle Gespräche. Hier setzt jede Traumatherapie an. Seine Erfahrungen in vertrauensvoller Atmosphäre zum Ausdruck zu bringen, heilt. Unter Umständen hilft dir expressives Schreiben für dich alleine. Möglicherweise hilft dir das Sprechen mit einem Freund oder einer Freundin. Vielleicht ist für dich auch der richtige Schritt mit einer professionellen Person zu sprechen. Genau hier setzt auch qualifizierte Ernährungsberatung und Ernährungstherapie an.

Schließen möchte ich diesen Blogbeitrag mit zwei Zitaten:

„Die Beziehung heilt. Die Beziehung ist alles.“ – Carl Rogers

“Solange du dir das Unbewusste nicht bewusst machst, wird es dein Leben bestimmen und du wirst es Schicksal nennen.“ – C.G. Jung